23

Wer den Tod betrügt, indem er ein außerordentlich hohes Alter erreicht, wird oft in einen fast mythischen Rang erhoben, ob nun eine solche Ehrerbietung durch bemerkenswerte Taten oder einen makellosen Charakter verdient wurde oder nicht – wir wissen von einer Frau aus Saint-Etienne, die einhundertundzwei Frühlinge erlebte; sie war niederträchtig und von trägem Geist, ein richtiges Zankweib in ihren mittleren Jahren, und doch kamen die Leute von weit her, um sie zu berühren, in der Hoffnung, ein wenig von ihrer Langlebigkeit aufzunehmen. Wenn Madame Catherine Karle diesen Markstein erreicht hätte, dann hätten wir sicherlich davon erfahren, denn sie war eine wahrlich bemerkenswerte Frau. In Champtocé berichteten Leute, die sie kannten, dass sie mit Steinen und Kieseln und einer Hand voll Erde wahre Wunder wirken konnte, und ich fand keinen Grund, dies nicht zu glauben.

Ihr Sohn Guillaume war ein guter, starker Mann mit einem freundlichen und verständnisvollen Wesen, der der Beste aller Gatten gewesen wäre, hätte er je geheiratet. Mir schien es immer, als müsste er einen höheren Rang bekleiden; er hatte etwas an sich, das ihn von uns anderen abhob. Er blieb für sich, ohne jedoch hochnäsig zu sein; dennoch hatte er eine gewisse »Größe« an sich, eine Vornehmheit der Erscheinung, die nicht zu übersehen war. Doch sie drückte sich aus in guten Worten und Taten, in deren Genuss auch ich kam. Am Ende des Martyriums meines Mannes, als ich ihn nicht mehr allein umdrehen konnte, war Guillaume immer bereit, mir mit seinen starken Armen und seinem guten Herzen bei der Pflege des Sterbenden behilflich zu sein.

Ich war damals als viel jüngere Frau den Anforderungen und Freuden des Lebens viel näher. Zu dieser Zeit mochte Guillaume annähernd fünfzig Jahre gezählt haben, er war ein sehr gut aussehender Mann, groß, aufrecht, schlank und gut gebaut, mit himmelblauen Augen und einem sehr schönen Lächeln. Voller Scham muss ich gestehen, dass ich in Etiennes letzten Tagen Guillaume mit einer gewissen Sehnsucht betrachtete. Ich hatte die Manneskraft meines Gatten seit seinem Weggang nach Orléans nicht mehr erlebt, und ich vermisste seine Zärtlichkeiten schrecklich. Inzwischen habe ich mir diese schändlichen Gedanken vergeben, aber ich glaube nicht, dass Gott schon dazu bereit ist, und würde Jean de Malestroit sie kennen, wüsste ich nicht, wie viel Buße er mir für meine menschliche Schwäche auferlegen würde.

Unser Weg führt uns sowieso durch Champtoceaux, sagte ich mir, und nicht einmal Seine Eminenz kann etwas gegen eine weitere kurze Verzögerung unserer Rückkehr einwenden. Und Guillaume Karle war leicht zu finden: Ein jeder, den wir fragten, kannte ihn und sprach mit großer Bewunderung von dem alternden gentilhomme. Dennoch konnte niemand wissen, was sich hinter einer geschlossenen Tür befand, und meinfürsorglicher Begleiter wollte mir nicht gestatten, ihn allein aufzusuchen. Nur um Eurer Sicherheit willen, Schwester, hatte Frère Demien sehr ernsthaft gesagt. Da musste ich mich fragen, wie ich ohne seinen Schutz all die Jahre hatte unbeschadet überstehen können – wohl nur dank eines unsichtbaren, geheimnisvollen Engels, dessen Macht ausschließlich für die reisende Äbtissin reserviert war. Also wirklich.

Ich sah zu, wie die Tür nach innen aufschwang, und als der Bewohner erschien, stand vor mir der Mann, den wir in der Taverne gesehen hatten. Mit neuerlicher Verwunderung betrachtete ich seinen dichten Schopf weißer Haare. In mir regte sich eine Freude, die ich gerne verbannt hätte, doch sie blieb – ja wurde sogar noch größer –, als ich ihn nun nach so langer Zeit wieder betrachtete. Ich sah auch in seinem Gesicht Überraschung und vielleicht auch ein wenig Freude; er wandte sich mir zu und beschirmte mit einer Hand die Augen, während er mit der anderen überschwänglich winkte. Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken.

Mit erstaunlich festem Schritt durchmaß er den kleinen Garten vor seinem Haus und kam zu mir, und obwohl ich noch auf meinem Esel saß, war ich kaum größer als er.

»Madame«, sagte er mit aufrichtiger Herzlichkeit. »Oder sollte ich Euch vielleicht Mutter nennen?«

»Mais non, Monsieur, keiner außer Eurer bemerkenswerten maman sollte diese Ehre zuteil werden.«

»Wie liebenswürdig von Euch, so freundlich von ihr zu sprechen. Und wie wahrlich wunderbar, dass Ihr mich besucht. Es ist schon sehr lange her, nicht?«

Inzwischen lächelte ich übers ganze Gesicht. »Das ist es in der Tat, Monsieur. Zu lange.«

So tauschten wir noch eine Weile Nettigkeiten aus, bis er schließlich sagte: »Vielleicht sollten wir ins Haus gehen und von anderen Dingen sprechen.«

Er bot mir seine Hand, und ich ließ mir von ihm von meinem Reittier helfen. Wenn man ein Nonnengewand trägt und von einem Esel absteigen will, gibt es wenig Hoffnung, dies mit Anmut zu tun. Irgendwie landete ich auf dem Erdboden, ohne zu stolpern.

Im Haus fand ich mich in einem Maße willkommen, wie ich es an fremden Orten nicht oft erlebte. Die Luft war frisch, aber warm und roch nach geöltem Holz. Kein Wunder – die Möbel waren schön und gut gemacht, von einer Eleganz, wie man sie vom Sohn einer Hebamme nicht erwarten würde. Die Anwesenheit einer Frau war beinahe greifbar – vielleicht hatte er sich doch eine Gattin genommen. Seine Welt hatte eine Pracht, die mich auf unerklärliche Weise glücklich machte.

Es war mir nicht bekannt, wie Guillaume seinen Lebensunterhalt verdient hatte, außer durch Handreichungen für seine Mutter, aber er musste beträchtlich verdient haben, um sich all die hübschen Sachen leisten zu können, die er angesammelt hatte.

»Wie schön Eure Möbel sind«, sagte ich.

»Oh, vielen Dank«, erwiderte er. »Die meisten habe ich selbst gemacht.«

Kaum hatte er das gesagt, war es für mich offensichtlich: Er war ein Möbelschreiner. Ich hätte es mir denken können, als ich ihn schnitzen sah. Aber es gab auch Wandteppiche und Webstoffe, wieder von einer Güte, die man nur in adligen Haushalten findet. Ich legte meine Hand auf ein fein gewobenes Tuch auf einer sehr schönen Truhe. Guillaume Karle bemerkte meine Neugier. »Mutter beklagte sich immer darüber, dass sie kaum Zeit hatte, solche Dinge zu machen. Sie lernte diese Fertigkeiten schon als sehr junges Mädchen.«

Die Fähigkeiten, solch feinen Zierrat herzustellen, findet man bei Töchtern niederer Familien normalerweise nicht. Es hatte immer Gerüchte unbekannter Herkunft gegeben, denen zufolge Madame Karle eine Herzogin oder Prinzessin sei, die davongelaufen war und sich nicht aufspüren lassen wollte. Ich glaubte diesen Klatsch nicht – Madame war viel zu praktisch, viel zu versiert gewesen in den natürlichen Dingen des Lebens, um eine solche Erziehung genossen zu haben. Und mir hatte sie persönlich gesagt, dass ihr Vater ein Arzt sei. Letztendlich war es mir ziemlich gleichgültig, woher sie stammte. Sie war eine gute Frau, die einen außergewöhnlichen Sohn aufgezogen hatte; sie verdienten beide meine ewige Bewunderung.

Ich konnte es nicht lassen, mich weiter in dem Zimmer umzusehen. Mein Blick blieb an einem sehr kleinen Porträt einer jungen Dame hängen, eine Tuschezeichnung auf Pergament in einem geschnitzten Elfenbeinrahmen. Mit einem Blick in Guillaumes Richtung bat ich um Erlaubnis, es berühren zu dürfen, und er antwortete darauf mit einem Nicken.

Sehr behutsam nahm ich es in die Hand.

Die dargestellte Frau zeigte ein feines Lächeln, wie ich es gelegentlich auf dem Gesicht der Hebamme gesehen hatte. »Madame selbst?«, fragte ich.

»Keine andere.«

Sie war wohl sehr gut getroffen, denn ich konnte mir die alte Frau vorstellen, die als junge Dame in der Blüte ihrer Jahre meine Kinder aus mir herausgeholt hatte. Obwohl die Abbildung ohne Farbe gezeichnet war, konnte ich sehen, dass ihre Haare sehr hell gewesen waren; in ihren späteren Jahren waren sie silbrig mit Strähnen des ursprünglichen Goldes darin. Ihr Ausdruck hatte eine große Würde, und Feuer blitzte aus ihren Augen, beides Wesenszüge, die ich auch aus dem persönlichen Umgang mit ihr kannte. Ich stellte das Porträt behutsam wieder auf die Anrichte zurück.

»Wenn Ihr mir jetzt sagt, dass sie noch am Leben ist, würde mich das nicht überraschen.«

»Ich wünschte, ich könnte es«, sagte ihr Sohn, »aber Gott rief sie im Alter von einundneunzig Jahren zu sich. Das glauben wir zumindest. Sie erinnerte sich, den Schwarzen Tod überlebt zu haben, und so kamen wir zu diesem Schluss.« Er lächelte ein wenig wehmütig. »Doch nicht einmal sie konnte dem letzten Ruf widerstehen. Das kann niemand, auch wenn wir es noch so sehr hoffen.«

Es war noch nicht allzu viele Jahre her. »Das tut mir aufrichtig Leid«, sagte ich. »Ich werde ihr immer dankbar sein für das, was sie für meinen Gatten getan hat. Und Euch auch.«

Frère Demiens stumme Anwesenheit erinnerte mich daran, dass wir uns nun dem zuwenden sollten, weshalb wir gekommen waren.

»Nun«, sagte ich mit einem wehmütigen Seufzen, »das Licht dieses Tages wird schwinden, bevor wir uns versehen. Vielleicht hat Frère Demien es Euch schon an der Tür gesagt – wir kommen eben aus Champtocé. Wir hatten dem alten Vogt aus meiner Zeit dort, der immer noch in der Festung wohnt, einen Besuch abgestattet.«

»Ah«, sagte Guillaume, »Monsieur Marcel.«

»Ebenjener.«

»Einer der besten Männer, die diese Erde je gesehen hat. Wie geht es ihm? Ich denke oft an ihn, war jedoch schon lange nicht mehr dort.«

Sein Tonfall verriet, dass er recht froh war, dort nicht mehr zu wohnen. »Er erfreut sich guter Gesundheit und fröhlichen Mutes«, sagte ich. »Und dort scheint alles wie früher zu sein, bis auf eine gewisse Vernachlässigung, die, wie man hofft, eher auf die Zeit denn auf böse Absicht zurückzuführen ist«, sagte ich. »Aber natürlich kann innerhalb dieser Mauern nicht wirklich alles so sein wie früher, ist dieser Besitz doch schon durch so viele Hände gegangen.«

»Was nur gut war, möchte ich meinen.« Er hielt inne und fügte dann hinzu: »Es kam schließlich so weit, dass meine Mutter nicht mehr dorthin gehen wollte, unter gar keinen Umständen. Sie sagte immer, dort ginge Böses vor sich. Sie könne es in ihren Knochen spüren, meinte sie.«

 

Ihre Knochen hatten Recht gehabt. Später sollten wir von Poitou hören: Als Milord Gilles Champtocé von seinem Bruder René de la Suze wiedererlangt hatte, gingen wir dorthin, doch nur zu dem Zweck, es wiederum weiterzugeben, diesmal an den Herzog der Bretagne. Milord hatte es ihm verkauft, doch ich vermute, dass er den Besitz nicht aufgegeben hätte, hätte er es nur irgendwie vermeiden können. Ich kenne die Feinheiten der Abmachung zwischen den beiden nicht, ich weiß nur, dass Milord sehr unglücklich darüber war und diese Übertragung unter Zwang vollzog.

Zu diesem Zeitpunkt forderte Milord Gilles zum ersten Mal einen Schwur der Geheimhaltung von mir. Er sagte: »Poitou, nie darfst du meine Geheimnisse verraten. Niemandem.« In diesem Augenblick verstand ich nicht, was ich geheim halten sollte, aber in meiner Treue schwor ich trotzdem.

Mit diesem Schwur nahm meine eigentliche Schande ihren Anfang.

Milord befahl uns – Henriet, seinem Cousin Gilles de Sille, Robin Romulart und Hicquet de Brémont und mir –, in den Turm zu gehen, wo wir, wie er sagte, die Leichen und Knochen vieler toter Kinder finden würden. Er wollte sicherstellen, dass Herzog Jean sie nicht entdeckte, wenn er Champtocé in Besitz nahm. Ich glaubte ihm zunächst nicht. Aber die anderen bestätigten die Wahrheit des Ganzen, und ich begann, um meine Seele zu fürchten. Wir sollten diese Überreste einsammeln, in eine Truhe packen und sie heimlich ins Schloss von Machecoul bringen. Er sagte nicht, wie viele es waren, aber als wir dorthin gingen, fanden wir die Überreste von sechsunddreißig oder sechsundvierzig Kindern, an die genaue Zahl kann ich mich im Augenblick nicht erinnern; damals zählten wir die Schädel, um sie zu bestimmen.

Diese »Leichname«– keiner war unversehrt – brachten wir sodann in Milords Gemächer in Machecoul. Wir reisten im Schutze der Dunkelheit, wobei wir alle neben dem Karren ritten, auf dem sich die Überreste befanden. Dort verbrannten wir mit der Hilfe von Jean Rossignol und André Buchet und unter Milords persönlicher Anleitung die Leichen im großen Kamin. Und als die Asche am nächsten Morgen erkaltet war, kippten wir sie in die Gräben und Latrinen von Machecoul. Es war nicht sehr schwierig, und wir hätten es auch in Champtocé tun können, wenn wir mehr Zeit gehabt hätten – aber der Herzog würde zu früh eintreffen, oder an seiner Stelle sein Abgesandter, der Bischof Jean de Malestroit, wir wussten nicht, wen wir erwarten sollten.

Ich kann nicht sagen, wer diese Kinder getötet hatte; ich weiß allerdings, dass Milords Cousin ihn oft besuchte, wenn er dort weilte, und dass eine große Vertrautheit zwischen ihnen herrschte, manchmal auch von unzüchtiger Art, wie es oft auch zwischen Milord und mir geschah. Ich wusste, dass man Kinder zu ihm brachte, wie auch ich selbst es später oftmals tat, um seine enorme Lust zu befriedigen. Wir alle miteinander brachten ihm im Lauf der Zeit etwa vierzig Kinder. Mehr als mir lieb ist, möge Gott meiner Seele gnädig sein.

Was er sicherlich nicht sein wird.

 

Nach Michels Verschwinden war ich so in meinem Kummer versunken, dass ich, falls sich wirklich Böses in Champtocé eingeschlichen hätte, es gar nicht hätte bemerken können. Catherine Karle hatte nichts von meiner Liebe zu dieser Festung – im Laufe vieler Jahrzehnte war sie gekommen und gegangen und hatte ihren Aufstieg und Fall miterlebt, ohne je eine sichtbare Rührung zu zeigen.

»Eure Mutter besaß eine wunderbare Beobachtungsgabe«, sagte ich zu Guillaume, »deshalb muss ich, was Ihr mir erzählt, als Wahrheit annehmen, auch wenn ich es selbst nicht bemerkt habe.«

Ich hielt kurz inne, um über meine Unzulänglichkeit als Beobachterin nachzudenken. »Ich vermute, ich hätte es sehen müssen«, sagte ich dann reumütig, »war Champtocé doch so viele Jahre lang mein Zuhause.«

»Macht Euch deswegen keine Vorwürfe, Madame. Niemand sieht gerne solche Dinge.«

»Ihr wäret überrascht, Monsieur, wie viele Fehler man in seinem Inneren finden kann, wenn man nur genug Zeit zum Nachdenken hat – wie ich sie zur Genüge habe. Aber genug von diesen Klagen.«

Nun nannte ich ihm ohne weitere Umschweife mein Anliegen. »Wir sind hier, weil wir hoffen, mehr über das Ableben meines Sohnes zu erfahren.«

Er wich ein Stück zurück und bekreuzigte sich. Es war nicht nötig, diesem Mann erneut in Erinnerung zu rufen, was Michel widerfahren war, und das war für mich eine Erleichterung – früher war ich so töricht gewesen zu glauben, dass jedes Erzählen meines Kummers ihn lindern würde. »Marcel meinte, es könnte noch etwas geben, an das Ihr Euch erinnert. Wir beide, Ihr und ich, sprachen damals nicht darüber, und auch Eure Mutter und ich nicht. Deshalb bitte ich Euch jetzt zu sprechen.«

Er nahm Madame Catherines Porträt zur Hand und betrachtete es einen Augenblick. Nachdem er es ehrfurchtsvoll wieder an seinen Platz gestellt hatte, sagte er: »Was werden Euch meine Erinnerungen nutzen? Sie können Euch nur Kummer bereiten, und nichts wird sich ändern.«

»Das vermag ich nicht zu sagen, Monsieur, bis ich sie von Euch gehört habe. Aber zögert nicht, offen zu sprechen, denn Ihr könnt nichts sagen, was mir mehr Schmerz bereiten könnte, als ich bereits durchlitten habe.«

Einen kurzen Augenblick dachte ich, er würde Widerspruch erheben, doch stattdessen sagte er: »Nun gut, Madame. Wenn es Euer ehrlicher Wunsch ist, dass ich es tue, dann werde ich es tun. Aber zuerst wollen wir uns setzen. Mir schmerzen plötzlich die Knochen.«

Der Sessel, in den ich meinen wund gerittenen Körper senkte, war so bequem, dass ich, wenn die Sonne schon untergegangen wäre, wohl augenblicklich in den Schlaf gesunken wäre, ohne einen Gedanken an die Gebete, die von mir erwartet wurden, bevor ich die Augen schloss. Doch jetzt saß ich aufrecht auf der Polsterkante – ich wollte sein Gesicht deutlich sehen, wenn er sprach. Schon jetzt konnte ich Schmerz darin erkennen.

»Mère sprach viele Stunden nach ihrer Rückkehr von dieser Suche kein Wort«, sagte er. »Obwohl sie doch jemand war, der so gerne plapperte. Ich versuchte, sie zum Reden zu bringen, doch sie blieb so gut wie stumm, als hätte sie mit einer großen Verwirrung zu kämpfen.« Er rieb langsam die Hände aneinander; erst als seine Unruhe nachließ, redete er weiter. »Mère war eine starke Frau mit einer robusten Seele; sie hatte in ihrem Leben schon viele schlimme Wunden und Verletzungen gesehen, viele Prüfungen durchlitten und schwere Zeiten erlebt. Ich dachte, sie wäre inzwischen unempfänglich für Schmerz und Entsetzen. Aber damals hatte sie einen solchen Zorn in sich … Euer Gatte hat Euch doch sicherlich gesagt, was sie ihm erzählt hatte.«

Ich lehnte mich entsetzt zurück. »Er hat mir nie gesagt, dass er mit ihr gesprochen hatte.«

»Er hat Euch nicht erzählt, wie wir im Eichenwäldchen aufeinander trafen?«

Ich antwortete mit einem Kopfschütteln. Ich fühlte mich betrogen, vor allem, weil ich mich nicht mehr an meinen Gatten wenden und ihn fragen konnte.

Guillaume hatte meinen Verdruss offensichtlich bemerkt, denn er sagte: »Ärgert Euch nicht, Madame. Wäre ich Euer Gatte gewesen, hätte ich Euch solch bedrückende Dinge wohl auch nicht erzählt. Aber jetzt werde ich Euch schildern, woran ich mich noch erinnere: Etienne stocherte mit der Spitze seines Schwertes in einem Gestrüpp. Als er uns sah, machte er ein Gesicht beinahe so, als hätten wir ihn bei einer Sünde ertappt. Aber er rief uns einen Gruß zu, und wir sprachen kurz miteinander. Hätte er gefragt, was wir im Wald machten, hätte mère ihm geantwortet, dass wir auf der Suche nach Arzneikräutern seien, aber er fragte uns nicht. Er war ziemlich beschäftigt mit dem, was er gerade tat.«

Wenn Etienne von diesen Erkundungen zurückkehrte – immer allein –, war seine Stimmung düster und abweisend. »Er ging so oft hinaus, da muss er doch zahlreichen Menschen begegnet sein, denke ich mir zumindest.«

»Wir sahen nicht viele Leute. Ich glaube, nach Guy de Lavals unglückseliger Begegnung mit dem Keiler und dem Verschwinden Eures Sohnes wagte sich keiner, der in der Umgebung wohnte, mehr in diesen Teil des Waldes. Wie es auch in Paris geschah, als dort Wölfe umherstreiften.«

»Ach ja. Möge Gott uns alle beschützen.«

Im letzten Herbst hatte ein bösartiger Wolf, der Courtaut genannt wurde, weil er sich selbst den Schwanz abgebissen hatte, um sich aus einer Falle zu befreien, eine Woche lang dreist ein Rudel seiner Brüder und Schwestern durch die Straßen von Paris geführt. Gemeinsam griffen sie zwischen Montmartre und der Porte Saint Antoine Dutzende von Menschen an und verstümmelten sie. Sie versteckten sich in den Weinbergen und Sümpfen und kamen nachts heraus, um den verängstigten Bürgern aufzulauern, die innerhalb der Stadtmauern lebten. Wenn sie auf eine Herde Schafe, ihre natürlichen Opfer, stießen, ließen sie diese in Frieden und griffen stattdessen den Schäfer an. Als Courtaut am Martinstag schließlich gefangen wurde, schob man ihn in einem Karren durch die Straßen, das Maul weit aufgerissen, damit jeder seine blutigen Zähne sehen konnte.

»Aber wenn es so gefährlich war, warum gingt dann Ihr und Eure Mutter in den Wald?«

»Gleich nach meiner Geburt waren wir einige Jahre lang getrennt, und sie kannte deshalb den Schmerz, ein Kind zu verlieren, nur zu gut. Bevor wir wieder vereint wurden, war sie viele Male kurz davor, die Hoffnung zu verlieren, wie sie mir mehr als nur einmal erzählte.«

Meine Augen wurden feucht. Das war etwas, das ich nicht gewusst hatte. Ich hätte sie getröstet, wenn sie es mir erzählt hätte, aber vielleicht hatte sie keinen Trost gewollt – Catherine Karle war eine Frau, deren Schultern schier unendliche Lasten tragen konnten. Ich senkte den Blick und sagte leise: »Die Hoffnung verliert man nie. Insgeheim hoffe ich immer noch, dass Michel eines Tages zu mir zurückkommt. Meine größte Angst ist, dass ich ihn nicht erkennen könnte, falls es geschieht.«

Guillaume schwieg eine Weile, wie auch Frère Demien. Das einzige Geräusch war unser gemeinsames Atmen, bis Karle wieder zu sprechen anhub.

»Madame«, flüsterte er.

Ich hielt den Kopf gesenkt.

Er umfasste meine Hände. »Madame«, sagte er noch einmal, »es tut mir sehr Leid, Euch sagen zu müssen, dass Euer Sohn nicht zurückkehren wird.«

»Die Hoffnung verliert man nie«, wiederholte ich, »zumindest nicht, bis alle Hoffnung dahin ist.«

Er drückte meine Hände. »Alle Hoffnung ist dahin.«

Ich hob den Kopf und sah eine schreckliche Traurigkeit in seinen Augen.

»Wisst Ihr, Madame – wir haben ihn gefunden.«

 

Es war schon spät, das Licht verlöschte, und wir waren seit dem Mittag unterwegs. Unsere Pferde wurden langsam unruhig, aus diesem unausgesprochenen Drang heraus, der sie dazu bringt, sich zu dieser Stunde gegen ihre Reiter zu wehren. Vielleicht spüren sie die bevorstehende Dunkelheit und wollen Schutz suchen, bevor sie ganz hereinbricht. Man weiß nie, welche Schrecken der Wald für Pferde bereithält. Mein Pferd scheute sogar noch mehr als das von Mère, denn obwohl sie eine Frau von beachtlicher Größe war, hatte sie doch kaum Fleisch auf den Knochen, wohingegen ich, der nach meinem Vater kam, wie sie behauptete, viel schwerer war als sie.

Lass uns die Pferde tränken, meinte sie, vielleicht wird die Wohltat des Wassers sie besänftigen. Mir leuchtete das ein, und so übernahm ich die Führung unseres Duos und lenkte mein Pferd durch den Eichenhain, in dem wir nach Eurem Sohn gesucht hatten. Der Zufall oder was auch immer wollte es, dass wir eine beträchtliche Menge Misteln in den Eichen entdeckten, die wir sammelten, bis unsere Packtaschen prall gefüllt waren. Wir freuten uns noch weiterhin über den gefundenen Schatz, als wir zu dem Bach am Grund des Abhangs kamen.

Es hatte in diesem Jahr heftig und sehr früh geregnet, und der Bach war so angeschwollen und mächtig, wie ich ihn nur selten gesehen hatte. Schlick und Kies und Blätter zeigten am Ufer die Höhe an, bis zu der er gestiegen war. Zu dieser Zeit war das Wasser bereits wieder gesunken und floss nun etwa eine Elle unterhalb des Hochstandes. Als wir dies sahen, ritten wir mit großer Vorsicht am Ufer entlang, denn der Schlamm konnte an Stellen tückisch sein und so feucht, dass ein Pferd bis zu den Knöcheln darin versank, vielleicht sogar so tief, dass auch das kräftigste Tier seinen Fuß nicht mehr herausziehen konnte. So war es ganz natürlich, dass wir sehr auf die Steine und Äste achteten, die überall herumlagen, und unsere Pferde im Zaum hielten.

Im Verlauf dieses behutsamen Ritts am schlammigen Ufer entlang stießen wir auf eine merkwürdige Ansammlung von Steinen, einen Haufen, der so von Menschen gemacht aussah, dass er unmöglich natürlichen Ursprungs sein konnte.

Wir banden unsere Pferde an einem niedrigen Baum an und gingen zum Wasserrand, doch fast augenblicklich versanken unsere Füße im Schlamm. Ich griff nach einem kräftigen Ast und konnte mich so herausziehen, und danach half ich meiner mère, wieder auf festeren Boden zu kommen. Doch weder sie noch ich stellten einen Fuß auf den Steinhaufen am Wasserrand, denn er war zweifellos ein Grab.

 

»Madame«, hörte ich Guillaume sagen. Die Worte hingen in der Luft, klangen aber, als kämen sie aus dem Wasser des entfernten Bachs, an dessen Ufer sie die Überreste gefunden hatten. »Madame soll ich aufhören?«

Irgendwie gelang es mir, wieder an die Oberfläche zu kommen.

»Nein«, sagte ich. Mein Kummer hatte mich so sehr im Griff, dass ich kaum sprechen konnte. »Um Gottes und aller Heiligen willen«, flüsterte ich, »nein. Erzählt mir alles.«

Plötzlich schien das Alter, das bis dahin scheinbar so spurlos an ihm vorübergegangen war, sich mit großer Macht auf ihn zu legen, und ich sah vor mir einen alten Mann, der seit vielen Jahren eine große Last auf seiner Seele trug.

Wir waren weiterhin vorsichtig, aber nachdem wir nun wieder sicheren Stand hatten, fingen wir an, die obersten Steine von dem Haufen zu entfernen. Bald kamen die Umrisse von Armen und Beinen und einem Leib und schließlich, am äußeren Rand, von einem Kopf zum Vorschein. Und an der Größe und Form erkannten wir, dass es ein junger Mann oder ein Knabe sein musste. Inzwischen hatten die größeren Steine Kieseln Platz gemacht; wer immer hier Euren Sohn zur Ruhe gebettet hatte, hatte ihn zuerst mit Sand und kleineren Steinen bedeckt und dann größere Brocken darüber geschichtet. Wir gingen sehr behutsam vor, um seine Ruhe nicht zu stören, und irgendwann sagte ich zu Mère: Lass uns nur das Gesicht freilegen, damit wir sehen, wer es ist.

Sie war einverstanden, und so kratzten wir den zusammengebackenen Sand um den Kopf herum weg, bis unsere Finger auf Fleisch stießen. Es fühlte sich schwammig und fest zugleich an, und obwohl die Natur bereits ihren Lauf genommen hatte, war vom Gesicht noch genug vorhanden, so dass wir Michel erkennen konnten.

Wir hielten einen Augenblick inne, und meine Mutter fing an zu beten – laut, was sie sehr selten tat. Sonst war sie immer sehr zurückgezogen in ihrer Andacht, sie vertraute darauf, dass Gott ihr schon zuhören würde, und hielt es deshalb für überflüssig, sich den Anschein von Frömmigkeit zu geben. Sie betete zu Gott und der Jungfrau für den Seelenfrieden Eures Sohnes. Und als sie ihre Gebete beendet hatte, saß sie einen Augenblick lang stumm da. Dann wandte sie sich mir zu und sagte, Gott habe ihr aufgetragen, dass der Knabe von seinen Sünden freigesprochen werden sollte und dass er, wenn dies getan sei, in den Himmel aufgenommen werde, wie er es dank der Unschuld seines Lebens verdient habe.

Als ich einwandte, dies müsse von einem Priester getan werden, lachte sie. Ich habe den Schwarzen Tod erlebt, entgegnete sie, und in dieser Zeit war auch für viel Geld kein Priester zu bekommen, denn die Pest galoppierte durch die Klöster wie auf dem schnellsten Ross. Es gab nicht genug Lebende, um die Toten zu begraben, und wir mussten mit dem zurechtkommen, was wir hatten. Oft war der letzte Überlebende der Einzige, der sich um die Seelen derer kümmern konnte, die vor ihm zugrunde gegangen waren. Und auch wenn dieser letzte Überlebende sich schon im kalten Griff des Todes wand, sprach er doch alle, die vor ihm gestorben waren, von Sünden frei. Du wirst doch nicht sagen wollen, dass all diese Seelen des Teufels waren, nur weil es ihnen der göttlichen Gnade ermangelte.

Te absolvo, sagte sie über Eurem Sohn. Und ich bin überzeugt, dass diese Worte die erforderliche Wirkung hatten.

 

Sie war eine so gute Frau gewesen, rein in ihrer Seele und gut in ihrem Herzen. Ich musste einfach glauben, dass ihre Worte Michels Erlösung bewirkt hatten.

»Nun«, sagte ich, während mir die Tränen über die Wangen rannen, »es tröstet mich, dass er nicht ohne Absolution blieb. Aber ich kann nicht ruhen, bis … ich muss einfach wissen … wie in Gottes Namen kam er zu Tode?«

 

Lass uns ihn weiter freilegen, sagte sie.

Aber das dürfen wir nicht tun. Wir müssen ihn in Frieden ruhen lassen.

Nein, beharrte sie, hier ist ein Geheimnis zu lüften. Ein Junge legt sich nicht auf die Erde und begräbt sich derart vollkommen selbst als Vorbereitung auf einen Tod, von dem er sicher weiß, dass er kommen wird. Er war noch einige Dezennien von seinem natürlichen Ende entfernt.

Also entfernten wir allen Schlick und Sand von seinem Leichnam, und durch die feine Kiesschicht, die noch auf ihm blieb, sahen wir die Wunde, die ihn offenbar niedergestreckt hatte. Denn sein Hemd war in der Mitte aufgerissen, und seine Eingeweide waren herausgezogen worden.

 

Tränen liefen mir über die Wangen, tropften auf die Brust meiner Tracht und von dort auf meinen Schoß. Mein ganzer Mut hatte mich verlassen, und durch meine Adern rann kein Blut, sondern scharfes und giftiges Quecksilber, das meine Seele zu Eis erstarren ließ. Er war also unter Schmerzen gestorben.

 

Wir lehnten uns einen Augenblick zurück und betrachteten, was wir freigelegt hatten. Mère stieß leise eine wüste Verwünschung aus und bat mich dann, seine Arme ganz freizulegen. Sie trug immer ein Messer in ihrem Strumpf- sie sagte, Grandpère habe ihr das beigebracht –, und das war ihr schon viele Male sehr nützlich gewesen. Nun schnitt sie damit die Brust des Knabenhemdes heraus, faltete sie sorgfältig und steckte sie in die Tasche ihrer Schürze.

Damit ich die Wunde besser sehen kann, sagte sie. Es nützt mir nichts, wenn sie verdeckt ist.

Nun betrachteten wir den Riss im Bauch genauer. Sie berührte ihn behutsam mit ihren Fingern und schob die Gedärme beiseite, um zu sehen, von welcher Stelle sie kamen. Und dann fluchte sie noch einmal. Wir müssen etwas tun, sagte sie zu mir. Wir können ihn nicht hier liegen lassen.

Es ist Gotteslästerung, die Toten wieder auszugraben, ermahnte ich sie. Das war doch der Grund für die Schwierigkeiten deines Vaters, nicht? Man wird uns sicherlich hängen, wenn wir dabei ertappt werden.

Wir werden sicherlich in der Hölle verfaulen, wenn wir nichts tun, entgegnete sie beharrlich. Diese Wunde ist nicht das Werk eines Keilers. Es wird für alle Ewigkeit auf unseren Seelen lasten, wenn wir nichts tun. Und ich habe schon genug auf meiner Seele.

Alle meine Einwände und Ermahnungen halfen nichts. Immerhin brachte ich sie so weit, dass sie bereit war, mit mir nach Hause zurückzukehren, damit wir uns dort ausruhen und ohne unnötige Hast überlegen konnten, wie wir weiter vorgehen sollten. Nachdem dies beschlossen war, machten wir uns daran, den Leichnam wieder zu bedecken. Inzwischen war Mère aber schon recht steif, denn sie hatte bereits eine ganze Weile gekniet, und ihre Knie waren nicht mehr die einer jungen Frau; ich glaube, sie war damals schon über siebzig. Ich hieß sie aufstehen, um ihre Gelenke zu entlasten, und legte die restlichen Steine alleine auf. Als sie sich ganz aufgerichtet hatte, drehte sie sich um und schaute hinter uns. Ich hörte sie aufstöhnen und schaute in die Richtung, in die sie starrte. Oben auf der Anhöhe sah ich eine Gestalt auf einem Pferd. Es war der Großvater, Jean de Craon.

 

Sie hatte kaum von ihrer Familie gesprochen, und wenn, dann erzählte sie nur, dass ihr père ein Meister der Heilkunst gewesen sei.

Er hatte Königen und Prinzen gedient und bei den berühmtesten Lehrern studiert, woraus er den allergrößten Nutzen gezogen hatte. Doch im Verlauf seiner Studien und der anschließenden Ausübung der cyrurgerie hatte er Leichen exhumiert und seziert, was die Kirche aufs Strengste verboten hatte. Doch der Mann war schon lange tot und mit Strafe nicht mehr zu erreichen.

»Kannte Jean de Craon die Geschichte ihres Vaters?«

»Ich glaube, er wusste genug.«

»Aber er konnte nichts tun, um ihr zu schaden; die Verbrechen ihres Vaters waren nicht die ihren.«

»Milord Jean würde da wahrscheinlich anderer Meinung sein.«

»Das kann er auf seinem Platz in der Hölle ruhig sein, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass ein Richter die Tochter für die Verbrechen ihres Vaters zur Verantwortung zieht.«

»Gott zieht uns alle für die Sünden unserer Väter zur Verantwortung.«

»Ja, schon«, sagte ich ungeduldig, »aber das ist etwas ganz anderes – die Sünden, mit denen wir auf die Welt kamen, nicht die Sünden, die wir selbst begehen.«

»Meine Mutter hatte eigene Sünden, für die sie sich verantworten musste«, sagte er leise. »Milord Jean hatte die Mittel, sie zum Schweigen zu bringen. Es gab Geheimnise, die sie bewahren musste. Ansonsten, das kann ich Euch versichern, hätte sie durchaus laut ausgesprochen, was sie für die Wahrheit in Bezug auf den Tod Eures Sohnes erachtete.«

Ich hatte beinahe Angst, weiter in ihn zu dringen. Aber nun war ich schon so weit gekommen und sah keinen Gewinn in einem Rückzug – Schwierigkeiten lagen in jeder Richtung, die ich wählte.

»Ich möchte diese Wahrheit hören.«

»Je regrette, Madame, aber das wird nicht leicht für Euch sein.«

»Sprecht.«

»Nun gut. Meine Mutter war der Ansicht, dass der Bauch Eures Sohnes nicht vom Hauer eines Keilers, sondern von einem Messer geöffnet wurde. Der Täter, sagte sie später, sei schlau genug gewesen, die Wunde so aussehen zu lassen, als stammte sie von einem Tier, indem er sie fransig machte und Dreck hineinschmierte. Doch dann hatte er sich offensichtlich eines Besseren besonnen und Michel beerdigt. Hätte allerdings ein anderer ihn gefunden, hätte der wohl übersehen, was ihr auffiel.«

Ich schwieg und starrte meine gefalteten Hände an, die in meinem Schoß lagen und das mouchoir meiner Mutter mit verzweifelter Heftigkeit umklammert hielten. Ich konnte mich gar nicht erinnern, dass ich es aus dem Ärmel gezogen hatte. Aber hier war es, zerdrückt zu einem faltigen Knäuel – das Opfer all meiner aufgestauten Wut.

Meine Gedanken, die eigentlich bei dem sein sollten, was Guillaume Karle mir eben enthüllt hatte, wanderten stattdessen zu Madame Catherine und ihrem Vater. Angesichts ihrer unehelichen Geburt war es ein fast zu heikles Thema, um ihren Sohn danach zu fragen, aber etwas in ihrer Vergangenheit hatte sie davon abgehalten zu enthüllen, was sie über das Schicksal meines Sohnes wusste, und ich wollte nun den Grund erfahren, warum sie mir dieses Wissen vorenthalten hatte. Vor allem aber wollte ich diesen Mann nicht in ein noch tieferes Schweigen über dieses Thema treiben, indem ich ihn mit drängenden Bitten um weitere Enthüllungen in Verlegenheit brachte. Ich beschied mich schließlich mit einer Frage, die mir unverfänglich erschien. »Erinnert Ihr Euch noch gut an den Vater Eurer Mutter?«

»Aber ja, sehr gut«, erwiderte er. »Als wäre er mein eigener. Als ich geboren wurde, war mein eigener Vater bereits tot. Und Grandpère nahm sich meiner an, als ich von Maman getrennt wurde.«

»Vielleicht, Monsieur, beehrt Ihr mich mit einer Geschichte Eurer bemerkenswerten Familie.«

Er lächelte, antwortete aber ausweichend. »Das würde viel Zeit in Anspruch nehmen.« Dann deutete er zum Fenster, in dem das Licht des Tages bereits deutlich schwächer wurde. »Die Sonne geht unter, und Ihr müsst Nantes erreichen. Aber ich würde mich geehrt fühlen, wenn Ihr vor Eurem Aufbruch eine kleine Erfrischung von mir annehmt. Etwas Wein, ein wenig Käse und Brot. Ich habe auch einige schöne Äpfel, wenn Ihr wollt.«

Schnell schaute ich zu Frère Demien hinüber, der das Angebot mit einem Nicken annahm. »Wie freundlich von Euch, dass Ihr Euren Tisch mit uns teilt«, sagte ich. »Aber ich selbst habe im Augenblick keinen Appetit auf Nahrung.«

»Ah, Madame. Dann soll mir Eure Gesellschaft genügen.«

Als er von seinem Stuhl aufstand, wirkte er einen kurzen Augenblick ein wenig unsicher, vielleicht wegen der Steifheit, die bei Leuten ehrwürdigen Alters nach langem Sitzen einsetzt. Am liebsten hätte ich ihm meine Hand gereicht, um ihn zu stützen, doch ich beherrschte mich, und er schaffte es auch alleine.

»Ihr habt mir viel zum Nachdenken gegeben, Monsieur«, sagte ich, als wir kurze Zeit später unsere Reittiere bestiegen. »Ich bin Euch dankbar für Eure Offenheit.«

Er berührte meine Hand mit aufrichtiger Herzlichkeit. »Solche Dinge erzeugen aber keine angenehmen Gedanken.«

»Betrachtet werden müssen Sie aber dennoch.«

Seine Augen sagten, was seine Lippen nicht aussprechen wollten: dass man gewisse Dinge besser auf sich beruhen lassen sollte und dass der Wald, den ich betreten wollte, ein gefährlicher war.

Doch betreten würde ich ihn. Sollten auch die Wölfe von Paris und die Keiler von Champtocé mir dort auflauern. Ich war bereit, mich ihnen zu stellen.

Die Schreckenskammer
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